Bild: Young Man by Jason Pier in DC is licensed under CC BY-NC 2.0

(pride1.de/kt) Ich hoffe, dieser Artikel erreicht diejenigen von euch, die darüber nachdenken, sich der Welt da draußen zu offenbaren. Auch wenn die Sexualität nur einen Teil der Persönlichkeit ausmacht, bestimmt sie nicht nur wen wir lieben, sondern auch wie wir leben. Wenn Du diesen Schritt wagen möchtest, solltest Du wissen: Du bist nicht allein. Sehr viele haben diesen Weg gemacht und ich möchte hier meine Erfahrungen mit dir teilen.

Zu Hause

Eigentlich war mir schon lange klar, dass ich auf Männer stehe. Mit zwölf fragte mich ein Freund im Schwimmbad, ob es mir gefiele, wenn er mich an der Badehose berührt. Ich sagte "nein", obwohl meine Badehose eine (deutliche zu erkennende) andere Antwort gab. Ich war scharf auf Jungs aber das war im dem Umfeld, in dem ich mich befand, nicht OK. Ich hatte ein konservatives EIternhaus und über manche Dinge wurde bei uns nicht gesprochen. Sexualität war so ein Thema. Das wird schon in der Schule besprochen, wozu sollte man da auch zu Hause drüber reden?

Schule

Anders als meine Eltern vermutet hatten, wurde Sexualität in unserer Schule zwar besprochen, aber eher biologisch. Rein, raus, neun Monate später ist das Kind da. Faszinierend, was da alles so im Bauch der Mutter passiert. Es ging nicht um alternative Lebensentwürfe oder Probleme, die es mit Sexualität geben könnte. Über solche Dinge kann man sich gut zu Hause informieren, meinte unsere Biologie-Lehrerin, die auch Unterricht für katholische Religion gab. Sonst kannte ich "schwul" nur als Schimpfwort vom Schulhof. Ich konnte mit ansehen, wie ein Mitschüler zwangsgeoutet wurde. Er hat damals zwar sehr darunter gelitten, aber aufgrund seiner körperlichen Konstitution hat sich wohl keiner getraut, sich weiter mit ihm anzulegen.

Erste Erfahrungen

Mir fehlte lange der Mut, aber irgendwann war das Bedürfnis so stark, dass ich dem einfach nachgeben musste. Ich traf meinen ersten Mann an einem bekannten Treffpunkt für Schwule. Es hat eine halbe Ewigkeit gedauert, bis ich mich getraut habe, in sein Auto einzusteigen. Ich war so nervös, das ich am ganzen Körper gezittert habe. Trotzdem war in dem Moment, als Jonas meinen Schwanz zum ersten Mal in der Hand hatte, meine Empfindung so klar, wie ich es nie zuvor empfunden hatte. Es dauerte nicht lange, wir hatten Spaß und Jonas hat mir noch seine Telefonnummer hinterlassen, wenn ich Lust auf ein nächstes Mal hätte oder einfach nur zum reden.

Das ganze hatte ein älterer Herr von draußen mitbekommen, ich weiß ehrlich gesagt nicht wieviel davon. Aber wohl genug um mir eine Lebensweisheit mit auf den Weg zu geben. Er hielt seinen rechten Ringfinger hoch, an dem ein Ehering angesteckt war. Er sagte zu mir: "Ich bin seit über 20 Jahren mit einer Frau verheiratet. Mach diesen Fehler nie."

Und jetzt?

Meine erste sexuelle Begegnung mit einem Mann war so viel besser als meine Erfahrung mit Frauen. Und der Rat des älteren Herrn ging mir nicht aus dem Kopf, weil er einen Lebensentwurf betraf, den ich in meinem Kopf hatte: Frau, Kinder, Haus, Auto und in Urlaub fahren. Das alles sollte jetzt nicht gehen, weil ich auf Männer stehe? Und wie wichtig sind mir eigentlich Kinder? Wie werden meine Eltern reagieren, wenn ich ihnen beichte, dass ich schwul bin? Werde ich meinen Freundeskreis verlieren? Ich war nicht in der Lage über diese Fragen meinem Umfeld darüber zu sprechen. Ich hatte es einfach nicht gelernt und es fehlte mir auch der Mut.

Wissen ist Macht

Aber ich fing an mich zu informieren. Ich las Bücher, schaute Dokumentationen und suchte im Internet nach "Informationen". Je mehr, desto besser fühlte ich mich damit - auch mit meiner Identität. Wissen ist Macht, und ich denke es hilft dabei, Klarheit und Selbstbewusstsein zu finden.

Es vergingen ganze zwei Jahre, bis ich mich getraut habe, es einer Freundin zu sagen. Sie hat mich bei dem Schritt begleitet und mir geholfen, es einfach auszusprechen. Gegenüber meinen Eltern, meinen Geschwistern und meinem Freundeskreis. Schließlich habe ich es sogar meinen Arbeitskollegen gesagt. Ich war extrem erleichtert, endlich konnte ich offen über mein Leben sprechen und brauchte nichts mehr zu verheimlichen. Außer meinen Eltern war eigentlich niemand geschockt. Keiner hat sich abgewandt, einige sagten mir, dass sowas schon geahnt hatten. Nur meine Eltern konnten sich nicht vorstellen, wie ich jemals glücklich werden sollte.

Glück

Dass sich Eltern Sorgen machen, hätte mir eigentlich klar sein müssen. Sie kannten ja keine anderen Schwule oder haben sich jemals mit dem Thema beschäftigt. Ihnen fehlte da jede Vorstellungskraft. Ich musste ihnen zeigen, dass ich mit meinem Partner glücklich bin und das man heute auch von anderen akzeptiert wird, wenn man als schwules Paar unterwegs ist. Sicher war es für sie kein leichter Weg aber sie haben gelernt es zu akzeptieren.

Blick zurück

Rückblickend war das Coming Out war sicher einer herausforderndsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Ich erinnere mich, wie mein Herz wie wild schlug, als ich es meiner Freundin endlich erzählte. Doch die Erleichterung, die ich spürte, war unbezahlbar. Ich denke, dass es kein festes Timing gibt. Du entscheidest, wann der richtige Zeitpunkt für dich ist. Nur den Fehler des alten Herren sollte man besser nicht machen.

Bestimmt können die Reaktionen auf ein Coming Out anders ausfallen, als das bei mir der Fall war. Einige Menschen werden überhaupt kein Problem damit haben und dich sofort unterstützen. Andere brauchen Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Und wieder andere wenden sich ab. Ich denke man muss mit allem rechnen aber für die Reaktion anderer ist man selbst nicht verantwortlich.

Dein Coming Out ist deine persönliche Reise, und es gibt kein richtig oder falsch. Du bist mutig und stark, einfach weil du du selbst bist. Du bist nicht allein auf diesem Weg, und es gibt Menschen, die dich lieben und unterstützen, genau so, wie du bist. Ich hoffe, dass meine Erfahrungen dir Mut gemacht haben, deinen eigenen Weg zu gehen.

Euer Jens

Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Hörerzuschrift, die wir gerne veröffentlichen. Mit seinem Einverständnis haben wir dem Hörer ein fiktives Gesicht gegeben, das Internet ist eine visueller Ort. Du hast auch eine Geschichte für uns? Schreibe uns gern über das Kontaktformular.